Henri-Dominique Lacordaire 1802-1861
Frankreich im 19. Jahrhundert – die Französische Revolution hatte Ideale und Hoffnungen geweckt, war aber letztlich gescheitert. So war die französische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts einem Wechselbad ausgesetzt zwischen Restauration, Saturiertheit und immer wieder neu aufkeimenden revolutionären Ansätzen.
Für die Kirche hatte die Revolution nicht nur den Verlust von Prestige, Einfluß und Besitz gebracht, sie mußte sich auch – erstmals nach Konstantin in diesem Ausmaß – bedroht und in die Enge getrieben fühlen von einem massiv antikirchlichen Staatsapparat. Fast zwangsläufig mußte sie daher um des eigenen Überlebens willen sich auf die Seite der Restauration stellen. Die Kirche wurde nicht nur überrollt von den Ereignissen, zum Teil vergrub und verbarrikadierte sie sich selbst. Misstrauen und Angst beherrschten das Klima.
In diese gesellschaftliche und kirchliche Situation hinein wird Lacordaire 1802 geboren. Seine Familie – überwiegend Ärzte und Juristen – gehörte zu der Schicht, die jetzt gesellschaftlich am Zuge war. Geprägt von Voltaire und Rousseau, waren ihre Ideale Humanität, die Menschenrechte, der Bürger, der sich aktiv gestaltend einsetzt. Auch Lacordaires Erziehung orientierte sich daran.
Früh verliert Lacordaire den Vater, die Mutter ist zwar eine religiöse Frau, aber kühl und distanziert. So erlebt Lacordaire eine strenge Jugend mit wenig Geborgenheit, Wärme und Liebe, lernt von Kindheit an, auf sich allein gestellt zu sein. Seinen Glauben verliert er frühzeitig. Was den jungen Mann treibt, ist die Suche nach Wahrheit.
Zunächst studiert er Jura in Dijon und geht 1822 zu einem Anwaltspraktikum nach Paris. Damit war die Basis für eine glänzende Laufbahn in Staat oder Politik gelegt. Obwohl er sich engagiert für den Frieden, für die politischen Freiheiten, empfindet er Überdruss, Leere, Sehnsucht. „Ich habe von allem genug, ohne überhaupt etwas gekannt zu haben. Niemand kann sich vorstellen, wie traurig ich bin.“ In dieser Verwirrung der Gefühle wird Raum geschaffen für eine Umkehr. Lacordaire findet „ohne äußeren Anlass“ zum Glauben zurück, das wie und warum seiner Bekehrung bleiben ein Geheimnis. Er selbst schildert später: „Eines Abends las ich im Evangelium nach Matthäus und brach in Tränen aus. Wen man weint, ist man dem Glauben nicht mehr fern.“
1824 entschließt er sich, ins Priesterseminar einzutreten. Bei seiner Familie und seinen Freunden stößt dieser Entschluss auf Unverständnis, Missbilligung. Auch Klerus und Amtskirche seiner Zeit erlauben ihm kaum positive Erfahrungen, sondern stehen ihm reserviert bis abweisend gegenüber. Aber Lacordaire lässt sich nicht abweisen, er schaut tiefer, sieht die Welt, wie sie ist, was ihr fehlt, woran sie leidet. Das ist Triebfeder für seine Berufung. Er erkennt, dass das Christentum nicht weltflüchtig ist, sondern einen Auftrag in der Welt hat, In der Kirche sieht er die tragfähige Alternative für die Gestaltung seiner Epoche.
Er bleibt seinen liberalen Ideen treu, ist begabt, selbständig und damit für die Kirche suspekt. Wenn Lacordaire nach seiner Priesterweihe 1827 zum Spiritual in einem Frauenkloster und zweiten Schulseelsorger bestimmt wird, könnte man darin auch den Versuch einer Abschiebung sehen. Doch er vertieft in der Abgeschiedenheit seine Berufung, seine Beziehung zu Christus.
Nach der Julirevolution von 1830 und dem Sturz der Monarchie gründet er gemeinsam mit Lamennais und Montalembert die Zeitschrift „L’Avenir – Gott und die Freiheit“. Darin setzt er sich nicht nur für das allgemeine Wahlrecht, soziale Rechte, Pressefreiheit ein, sondern für eine grundsätzliche Meinungsfreiheit, die auch den Irrtum mit einschließt, und für eine Trennung von Kirche und Staat. Die Freiheit ist es wert, auf jede Annehmlichkeit und Hilfe zu verzichten. Nur so kann eine Instrumentalisierung der Kirche durch die Machthaber ausgeschlossen werden. 1832 wird L’Avenir vom Papst verboten. Lamennais bricht darauf mit der Kirche, Lacordaire führt dieses Ereignis noch tiefer in die Kirche hinein.
1834 erhält er das Angebot zu predigen. Mit viel Einfühlungsvermögen geht er auf seine Zuhörer ein. Ganz Paris spricht von ihm. Doch man unterstellt anarchistische Tendenzen und denunziert ihn bei seinem Bischof und in Rom. Eher ist er bereit, seine Predigten einzustellen als seinen Stil zu ändern. Der Hunger der Menschen nach der Verkündigung der Frohen Botschaft ist ihm wichtiger als Anpassung. Er hat damit faktisch Predigtverbot.
So ist es äußerst erstaunlich, dass ihn der Bischof von Paris 1835 als Fastenprediger nach Notre-Dame ruft. Diese Fastenpredigten machen ihn zu einem der berühmtesten Prediger seiner Zeit. In seinen Predigten, die mehrere Stunden dauern, versteht er es, die Menschen in ihrem innersten Kern anzusprechen. Bischöfe, Politiker, Ungläubige und vor allem viele junge Menschen kommen, um ihn zu hören. Auf den Höhepunkt des Erfolges bricht Lacordaire ab, es geht ihm nicht darum, Karriere zu machen.
Er bemüht sich um die Wahrheit mit sich selbst. Seine zentrale Frage ist: „Was braucht die Kirche hier und heute?“ Er hat den Wunsch, sich dort einzusetzen, wo die Bedürfnisse der Zeit am dringendsten nach Hilfe verlangen. Da „entdeckt“ er Dominikus und seinen Orden. „Ich war von der Weite der Regel beeindruckt. Alles, was sich auf das Heil des Nächsten bezieht, geht den Orden etwas an …“ Seit 1789 war der Dominikanerorden in Frankreich verboten. Lacordaire gelingt es, durch eine Denkschrift 1839 die Öffentlichkeit gegen den Staat für eine Wiedereinführung des Ordens zu gewinnen. Mit einer kleinen Gruppe von Brüdern geht er nach Viterbo (Italien) ins Noviziat. Dort befasst er sich vor allem mit Person und Leben des Dominikus. 1840 legt er seine Profess ab, 1850 wird die französische Ordensprovinz wieder errichtet.
1848 engagiert er sich nochmals politisch und versucht zwischen „rechts“ und „links“ zu versöhnen. Doch nach wenigen Wochen muss er einsehen, das dies nicht möglich ist. 1851 zieht er sich ganz aus der Öffentlichkeit zurück. Sein Schweigen versteht er auch als Zeugnis gegen die Gewaltherrschaft von Napoleon III. Er widmet sich nunmehr mit aller Kraft dem Aufbau des Ordens. Auch bei dieser Aufgabe bleiben ihm Auseinandersetzungen und Konflikte nicht erspart. In seinen letzten Lebensjahren konzentriert er sich auf die Bildung und Erziehung junger Menschen und übernimmt die Leitung einer Schule in Sorèze. Dort stirbt er 1861. Kurz vor seinem Tod war er in die Academie francaise aufgenommen worden.
Der junge Lacordaire hatte einen Traum gehabt, er wünschte sich „drei Kastanienbäume, einen Kartoffelacker, ein Kornfeld und eine Hütte tief in einem Schweizer Tal.“ Diesem privaten Traum ist er nie nachgegangen, sondern er hat sich zwischen den Fronten und Polarisierungen Gesellschaft und Kirche eingesetzt für das Heil der Menschen.
Er erkannte und glaubte, dass gerade der Dominikanerorden dazu berufen ist, das Evangelium Jesu Christi in die moderne Gesellschaft zu tragen und erweckte den Orden zu neuem Leben.
Zusammenstellung nach:
Martin, Christoph-M.: Henri-Dominique Lacordaire. Ein Mann seiner Zeit. In: Müller, Franz: Dominikanerinnen und Dominikaner. Fribourg, Konstanz 1988, S. 98-112
Müller, Franz: Henri-Dominique Lacordaire (1802-1861) – Existenz zwischen den Fronten. In: Wort und Antwort. 30(1989)2, S. 58-63
(Margret Burkart, Gruppe Lacordaire)